Meine Zeit

Von Meik Pyka / September 2010

Seit mehr als 16 Jahren betreibe ich das Karpfenangeln äußerst intensiv. Immer wieder stecke ich mir neue Ziele, werde niemals ruhiger – ganz im Gegenteil. Gerade der Fang eines großen oder bestimmten Fisches stachelt mich nur zusätzlich an weiterzumachen. Ich bin süchtig. Nicht unbedingt nach dem Fang eines Giganten, denn meine Ziele sind sehr unterschiedlicher Natur. Ist der weiße Koi aus dem kleinen Waldsee fangbar? Komme ich dieses Jahr auf die angestrebten 150 Nächte am Wasser? Kann ich den Naturgewalten an einem 4.000 Hektar-Meer im Oktober trotzen? Oder mit dem Auto nach Marokko zum Fischen fahren?

Um Fische zu fangen, muss man denken wie ein Fisch...Um Fische zu fangen, muss man denken wie ein Fisch…

In den letzten Jahren ist kaum eine Woche vergangen, in der ich nicht mindestens eine Nacht am Wasser verbracht habe. Ich lerne aus jeder Sitzung und durch meine gewonnenen Erkenntnisse wächst mein Interesse mehr und mehr. Ich bin ihnen verfallen, den Bartelträgern. Mein Wissenshunger ist nicht zu stillen. Dirk Salomon schrieb einmal, „Bestimmte Karpfen sind planbar – konsumierbar.“ Und da gebe ich ihm Recht. Wenn ich einen Zielfisch vor Augen habe, hole ich Informationen über das Gewässer und den Fisch ein. Es ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Ich sitze „Ihn“ aus. Ich brauche das Gefühl von Freiheit und erlebe die einsamen Stunden am Wasser intensiver als alles andere. Dann bin ich ein glücklicher Mensch.

 

Es ist sicherlich egoistisch, aber alleine diese Zufriedenheit zählt für mich. Ich bin kein Mensch der auf Hochzeiten, Geburtstage oder Tupper-Partys geht. Neben meiner Arbeit habe ich sämtliche Verpflichtungen aus meinem Leben gestrichen. An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Familie, aber vor allem bei meiner Frau, für ihre Geduld und ihr Verständnis (oder zu mindest ihre Toleranz) bedanken. Für die Wenigen, mir wirklich nahe stehenden Menschen, ist es oft schwer nachzuvollziehen, was in mir vorgeht. Sie habe aber erkannt, dass das Angeln für mich zur Lebenseinstellung geworden ist und akzeptieren es. Danke schön, Danke für ein offenes Ohr, die Unterstützung und Hilfe. Danke von ganzem Herzen. Und jetzt zum Thema:

Cassien
Mitte der 90er erschien das erste „Rute und Rolle – Sonderheft Karpfen“. Zur damaligen Zeit gab es nicht viel Fachliteratur und ich verschlang das Magazin an einem Tag. Wenn ich heute an den Artikel von Léon Hoogendijk und seine Dampfwalze denke, bekomme ich noch immer Gänsehaut. „Mit zitternden Fingern will ich eine Zigarette aus der Packung nehmen – was, schon leer? Ich bin vollkommen fertig, ich kann es immer noch nicht glauben. Aber ein Blick auf die „Dampfwalze“ und ich weiß: Das ist der französische Rekord für Schuppenkarpfen.“

 

Einer der Kultfische vom Cassien: ObelixEiner der Kultfische vom Cassien: Obelix

Oder Klaus Brix, das Urgestein, mit dem großen „Fully Scaled“: „Doch was ist das? Der Fisch hängt kerzengerade nach unten im Wasser! Ich muss mich unendlich lang machen, um an das Ende des Fisches zu gelangen – er scheit endlos zu sein!“ Sie war 1,28 m lang. Scheiße, was für ein Riese. Dass sie eine Schwester hat, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, aber dazu später mehr…

 

1996 fuhr ich das erste Mal an den magischen Lac de St Cassien. Es war im Januar, bitterkalt und ich Steppke fing Karpfen, von denen ich bisher nur geträumt hatte. Unter anderem den damals bekannten, großen Schuppenkarpfen „Free Willy“. War es nur Glück?

Bis Ende 1997 fuhr ich noch drei weitere Male an diesen See. Jeweils für 10 bis 14 Tage. Meine beiden größten Karpfen aus dieser Zeit waren „Die Hure“ mit 28 Kilo und „Big Scale“ mit 29,5 kg und einer unglaublichen Länge von 1,28 Meter. Ich saß am Ende des Nordarms und angelte von der „Blauen Lagune“ aus, dem Platz auf der Sonnenseite, in Richtung „Zollhäuschen“ auf der gegenüberliegenden Seite. Es war windstill und trotzdem hatte ich immer wieder Pieper. Genervt, da es erst sechs Uhr morgens war, zog ich mir meine Stiefel an, um die vermeintliche Brasse einzukurbeln. Ich war noch nicht richtig im zweiten Stiefel drin, als aus den Piepern ein ausgewachsner Abzug wurde. Das Rig lag auf Sicht mitten in einem Krautfeld. Keine acht Stunden zuvor hatte ich an der Rute das auffällige Subfloat entfernt und stattdessen die Schnur etwas im Kraut versteckt. Meine zwei Tigernüsse am Haar überzeugten „Big Scale“, den absoluten Traumfisch, wahrscheinlich die Schwester von Klaus Brix „Fully Scaled“. Der See mochte mich anscheinend und ich liebte ihn! Bis zum Jahr 2000 fing ich dort 20 Carp über 20 Kilo und drei sogar über 25 Kilo.

 

Bernadette im Jahr 2003: Dort wog sie 26kgBernadette im Jahr 2003: Dort wog sie 26kg

Ich befischte den See anders als alle anderen und saß in verhältnismäßig wenigen Sessions an fast allen Plätzen im Nord-, Süd- und Westarm. Teilweise wechselte ich täglich die Stelle, legte meine Ruten an unmöglichen Plätzen ab, zum Beispiel auf kleinsten Felsen in den Steilkanten, oder präsentierte einfach nur eine einzelne Tigernuss ohne Beifutter als „Light Rig“ – also garniert mit einem Knicklicht auf dem Vorfach. Ich glaube, wenn man sich an einem Ort einfach unbeschreiblich wohl fühlt, dann spürt auch die Umgebung das. Irgendwie konnte hier für mich nichts wirklich schief gehen.
Millenium
Im Sommer 2000 plante ich meine längste Cassientour von sechs Wochen. Ich verfolgte das wahnwitzige Ziel „Half Moon“, einen der damals schwersten und besonders beeindruckenden Cassienfische zu fangen. Am See angekommen, erzählte mir Gerad Tevenon, der damalige Inhaber des bekannten Restaurants am See, dass der Halbmond gestorben sei. Gesehen habe er ihn zwar nicht tot, aber einige Franzosen vermittelten ihm diese Botschaft glaubhaft. Für mich brach wirklich eine Welt zusammen. Sicher, der See ist über 600 Hektar groß. Hier diesem Traum vom Halbmond hinterher zu jagen würde sich insgesamt als ziemlich schwierig gestalten…

 

Doch kürzen wir die Geschichte ab: Exakt 27 Tage nach der traurigen Botschaft vom angeblich toten Halbmond fing ich diesen Wahnsinnsfisch im Südarm mit 27,6 kg! Vielleicht wurde der gewichtige Spiegler von meiner versunkenen Banane wieder zum Leben erweckt… Egal, sie lebte und die Geschichte von „Half Moon“ und meinem Bananaboot ist einen extra Bericht wert.

Ab der Jahrtausendwende bis 2003 befischte ich den Cassien jede Saison für circa vier Wochen. In diesen drei Jahren fing ich wahnsinnig viele Karpfen, etliche 40er und drei weitere 50er. Ich werde wohl nie vergessen, wie ich einen 23,5 Kilo Spiegler, bekannt als „Crinckle Tail“ und einen 27 Kilo Spiegler im Westarm auf Schwimmbrot fing. Durch Zufall entdeckte ich Fische an der Oberfläche, als ich mit meiner Freundin Semone etwas abseits von unserer Angelstelle die Sonne genoss. Ich warf etwas Baguettebrot auf die Oberfläche und es dauerte nicht lange, bis der erste Happen in einem Rüssel verschwand – unglaublich! Wir fütterten mit dem Brot vor und kamen wieder – mit Ruten und Oberflächenmontagen. In diesem zehntägigen Trip fing ich 18 Karpfen im Cassien an der Oberfläche und nicht einen am Grund!

 

Bernadette im Juli 2008: Der gesunde Fisch wiegt nun 30,2kg!Bernadette im Juli 2008: Der gesunde Fisch wiegt nun 30,2kg!

Meinen vorerst letzten 50er fing ich 2003. Es war Winter und ich fischte ein paar Tage mit einem befreundeten Zanderangler zusammen. Wir erreichten den See früh morgens und es war wirklich sehr kalt. Die Lufttemperatur lag weit unter null Grad und im Südarm hatte sich schon Randeis gebildet. Ich entschied mich für einen ganz bestimmten Platz am Ende des Nordarms. Dort beträgt die Wassertemperatur durch eine Quelle immer ein bis drei Grad mehr. Viele der am See ausharrenden „Hunter“ blankten und auch wir hatten kein gutes Gefühl. Zum Glück sollte sich dieses nicht bestätigen. Denn keine drei Stunden nachdem ich meine erste Falle gestellt hatte, schnappte diese zu: Ich kescherte einen mir schon bekannten 40er. Es war „One Scale“, ein sehr standorttreuer Karpfen.

 

An diesem Tag fing ich ihn das dritte Mal in dem gleichen Areal – typisch für sehr viele größere Cassienkarpfen. In der darauf folgenden Nacht bekam ich so gegen drei Uhr einen Abzug auf einen Big Ball. Damals hatte ich noch keine Ahnung, welche Rolle dieser Fisch noch in meinem Leben spielen sollte. „Bernadette“ wog genau 26 Kilo als ich sie zum ersten Mal auf den Armen hielt. In der Woche holte ich mir noch drei weitere Karpfen bis 19 Kilo. Dann verließ mich der Zanderangler und mit ihm das auch das Glück. Ich brachte ihn zum Flughafen nach Nizza und holte dort gleich meine Frau Semone ab. Wir blieben noch fast zwei Wochen am See und es wurde noch kälter. Außer einem Run im Kreuz (den Fisch habe ich leider verloren) ging allerdings nichts mehr. Aber es war trotzdem eine tolle Zeit.

In den folgenden fünf Jahren fuhr ich weiterhin für zwei Sessions pro Saison an den mystischen See. Meistens fischte ich dort für zwei Wochen im Winter und für zwei bis drei Wochen im Sommer. Ich fing keinen weiteren Karpfen über 25 Kilo, aber Ende 2007 hatte ich sechzig verschiedene Fische über 20 Kilo auf meinem Konto. Von Wiederfängen ganz zu schweigen. Schon als ganz Kleiner, das Sonderheft Karpfen vor mir aufgeschlagen und die Bilder von Klaus und Leon vor Augen, träumte ich davon auch mal an einem dieser großen, wilden Gewässer, einen Bullen von über 30 Kilo zu fangen. Den Traum träumte ich weiter, bis zum Sommer 2008.

 

Auch BigScale konnte zwei Tigernüssen nicht widerstehenAuch BigScale konnte zwei Tigernüssen nicht widerstehen

Mein Sommermärchen
Schon im Januar 2008 fuhr ich für zwei Wochen an meinen „Magic Lake“ mit meinen Brüdern Nick und Bengt. Wir hatten eine geile Session im Nordarm und fingen viele Fische bis 21 Kilo – wieder ein alter Bekannter, der seinem Standort treu bleibt. Eigentlich ist der Winter die Topzeit, wenn das Ziel ein wirklich Dicker ist. Die Karpfen haben jetzt ihr Höchstgewicht. Andererseits ist der Angeldruck mittlerweile auch in den kalten Monaten hier gewaltig und es ist bei Minusgraden wohl an keinem Gewässer der Welt ein leichtes Spiel, überhaupt Runs zu bekommen. Anders in der warmen Jahreszeit. Im Juli 2008 war ich mit der ganzen Familie am See, meine Frau Semone, Mark und Franny, Nick und Bengt und ein paar Freunden. Wir hatten einen Plan: Der Westarm war das Ziel, da er bis Mitte Sommer gesperrt ist. Am Tag nach unserer Ankunft sollte er wieder öffnen. Doch als wir im Westarm ankamen, war es schon dunkel, wir waren übermüdet von der Fahrt und was wir dann am Ufer erblickten, ließ die Stimmung wirklich auf den Tiefpunkt sinken: Kein Platz war mehr frei.

 

Überall hatten sich Franzosen mit derselben Idee niedergelassen… OK, wir wollten es anders machen. Neues Ziel: Ende Südarm. Semone und ich fuhren den „Schilderplatz“ an. Hier liegt weiter draußen ein großes Plateau, das bekannt dafür ist wenige, aber oft dicke Fische zu bringen. Auch dieses Mal? Extra für diesen Trip hatte ich mit Sebastian von Black Label Baits einen schneeweißen Boilie gerollt – Scoberry. Weiße Pop Ups bewährten sich schon sehr gut, was würde erst mit weißen Sinkern passieren? Das große Plateau befischte ich drei Tage lang gar nicht. Stattdessen fütterte ich hier nur täglich eine gute Ration Boilies. Mit Tigernüssen stellte ich im Flachen Fallen an Schilffeldern und Krautkanten. Am dritten Morgen passierte es: Ein langsamer Biss auf eine Nusskette in einer Bucht: In den Kescher glitt „Anni-Chardonnay“, der große Two-Tone-Schuppenkarpfen mit 26 Kilo! Jetzt müssen nur noch die Boilies auf dem Plateau Wirkung zeigen…

Von dieser Taktik hatte ich mir viel versprochen, schließlich ist der Angeldruck hier extrem hoch und kaum einer füttert, ohne zu angeln. Ich ließ sie erst mal drei Tage lang vertrauensvoll fressen, bevor ich einen Versuch wagte. Dass es so ausgehen würde, hätte ich mir aber niemals träumen lassen: In den verbleibenden Tagen fing ich auf dem Plateau sieben Fische über 30 Pfund, drei weitere sogar über 40 Pfund. Und zum Abschluss besuchte mich eine alte Bekannte: In der Morgendämmerung hatte ich meine Ruten auf dem Plateau abgelegt und kuschelte mich wieder auf die Liege.

 

Der wunderschöne TwoTone wird Anni-Chardonay genanntDer wunderschöne TwoTone wird Anni-Chardonay genannt

Langsam erwachte die Sonne und vertrieb den Nebel. Ich war wieder eingeschlafen, als mich nur ein Signal meines Bissanzeigers weckte. Kurz darauf ein zweites und dann der Dauerton! Sekunden später war ich mit der Rute im Boot auf dem Weg zum Fisch, eingehüllte in das goldene Licht der Morgensonne. Er zog unter dem Boot ruhig seine Bahnen – vielleicht doch ein großer Wels? Langsam erhöhte ich den Druck und löste den Fisch vom Grund. Karpfen! An der Oberfläche zeigte er seinen wahnsinnig breiten Rücken. Mir rutschte das Herz in die Hose. Endlose Minuten, kein wirklicher Genuss, eher Sorge, dass etwas schiefgeht. Aber es ging nichts schief. Der Haken saß bombenfest und ein Riese glitt in die Maschen. Am Ufer wartete Semone.

 

Als sie den Fisch erblickte, war sie fassungslos. Sie wusste schon, dass mein Traum in Erfüllung gegangen war. Ich konnte es noch nicht glauben. 30,2 Kilo zeigte die Waage und erst jetzt erkannte ich, dass es meine alte Bekannte aus dem Winter 2003 war – Bernadette. Es ging der alten Dame also sehr gut. Vor mir lag dieser unglaubliche Fisch und ich fühlte mich wieder wie der kleine Junge, der in seiner Fantasie die Abenteuer der Großen aus dem Magazin durchspielte. Das Spiel war lange Realität geworden: Karpfenangeln, das Abenteuer meines Lebens.

Meik Pyka